Chancengerechtigkeit im Studium: Wie das Elternhaus unseren Bildungsweg bestimmt.
Die Nonprofit-Organisation “ArbeiterKind.de” ermutigt Schüler*innen aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu, als Erste in ihrer Familie zu studieren und berät sie etwa zur Studienfinanzierung bis hin zum späteren Berufseinstieg. Mit Gründerin Katja Urbatsch haben wir über Schubladendenken, BAföG-Reformen und Verschuldungsängste gesprochen.
Frau Urbatsch, 71 Prozent aller Kinder sind “Arbeiterkinder”. Warum studieren nur 27 Prozent von ihnen, aber 79 Prozent der “Akademikerkinder”?
Nun, Arbeiterkinder haben keine akademischen Vorbilder in ihrer Familie, daher ist ein Studium für sie weniger naheliegend. Sie können auch seltener auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern zählen, was ein Studium zusätzlich erschwert. Ich weiß, wovon ich spreche: Ich bin selbst die erste Akademikerin in meiner Familie. Ich musste mich damals im Studium um alles selbst kümmern und hatte oft das Gefühl, anders zu sein als die Akademikerkinder an meiner Uni.
Wie wurde aus dieser persönlichen Erfahrung das große “ArbeiterKind.de”-Netzwerk?
Ich habe “ArbeiterKind.de” vor 13 Jahren gegründet, weil ich fand, jemand muss da mal etwas tun. Zunächst war das nur eine Website, aber der Bedarf war groß, und so ist unser Netzwerk gewachsen: Mittlerweile sind gut 6.000 Ehrenamtliche für uns an 80 Standorten in Deutschland aktiv. Sie ermutigen und informieren Studieninteressierte aus nicht-akademischen Familien an Schulen und auf Bildungsmessen über Studienangebote und Finanzierungsmöglichkeiten und helfen Studierenden der ersten Generation im Studium beim Berufseinstieg.
Auf welchen Erfolg sind Sie besonders stolz?
Im Jahr 2008 hatte noch kaum jemand diese Zielgruppe auf dem Schirm, aber jetzt ist das Problembewusstsein gewachsen: Es gibt erste Maßnahmen an Hochschulen, beispielsweise Mentoringprogramme und Stipendien. Wir haben es geschafft, dass die Herausforderungen von Studierenden der ersten Generation endlich in der Politik und an Hochschulen wahrgenommen werden.
Aber: Der “Bildungstrichter” hat sich seitdem kaum verändert. Die Statistik wird sich erst ändern, wenn wir die Strukturen im Bildungssystem ändern.
Welche strukturellen Änderungen wünschen Sie sich?
Mir geht es um die Haltung. Wir haben ein Bildungssystem mit der Tendenz, vermeintlich sozial schwache Menschen schon früh in Schubladen zu stecken. Gerade Kindern aus sozial schwachen Haushalten wird früh und oft zu unrecht mangelndes Potential bescheinigt. Viele bekommen in der Schule zu hören: “Du schaffst nie das Abi”. Das ist fatal, solche Zuschreibungen steuern Menschen und reduzieren das Selbstwertgefühl. Diese problematische Form des Aussortierens erleben wir auf allen Stufen des Bildungswegs, von der Grundschule bis ins Studium.
Und wie sieht es nach der Schule aus?
Die strukturellen Probleme ziehen sich durch das Bildungssystem. An jeder einzelnen Stufe des Bildungstrichters ist die Gefahr groß, Studierende der ersten Generation zu verlieren. Sie haben einen höheren Druck, endlich Geld zu verdienen, statt einen Master zu absolvieren oder zu promovieren. Außerdem sind Master- und Promotionsplätze oft begrenzt, was gerade Studierende aus weniger privilegierten Elternhäusern abschrecken und ausschließen kann. Dazu kommt, dass bisher nur an einem Teil der Hochschulen die Bedürfnisse von Studierenden der ersten Generation besonders berücksichtigt wird werden und passgenaue Unterstützung oft noch fehlt. Wir bieten deshalb Sensibilisierungsworkshops für Schulen und Hochschulen an, um Vorurteile ab- und Verständnis für Menschen aus nicht-akademischen Familien aufzubauen.
Welche Erfahrungen machen Studierende der ersten Generation aktuell an Hochschulen?
Mich macht es traurig, dass Studierende der ersten Generation oft als weniger leistungsfähig abgestempelt werden. Viele wünschen sich einfach mehr Verständnis: Dass erstmal nachgefragt wird, bevor geurteilt wird. Denn in der Realität studieren sie unter schwierigeren Bedingungen und leisten eigentlich Bewundernswertes: Sie sind inhaltlich und finanziell oft mehr auf sich allein gestellt sind als ihre Kommiliton*innen. Hinzu kommen oft “Zusatzbelastungen” wie die Pflege von Familienangehörigen, Kinder, chronische Krankheiten oder zusätzliche Diskriminierungen, etwa aufgrund von Migrationshintergrund. Je mehr dieser Faktoren zusammenkommen, umso herausfordernder wird das Studium. Und dann brauchen Studierende Unterstützung von ihrer Hochschule.
Stichwort Nebenjob – wie steht es um die finanzielle Lage der Arbeiterkinder?
Studienfinanzierung zählt zu den größten Herausforderungen und hält viele vom Studium ab. Studierende aus finanzschwachen Haushalten haben meist Anspruch auf BAföG. Allerdings ist der Antrag sehr bürokratisch, die Höhe der Zahlungen nicht planbar und das Geld kommt häufig zu spät. Das ist problematisch für Studierende ohne Rücklagen. Darüber hinaus ist die Angst vor Verschuldung hoch – das BAföG muss man ja anteilig zurückzahlen. Und dann gibt es Studierende, die kein BAföG beantragen, weil sie das Einkommen ihrer Eltern nicht nachweisen können, beispielsweise, weil kein Kontakt zu einem Elternteil besteht.
Oder weil sie das Studium nicht in der Regelstudienzeit schaffen…
Genau – das passiert natürlich insbesondere den Studierenden mit Zusatzbelastungen. Wir müssen weg von der Fixierung auf die Regelstudienzeit: Wenn wir eine diverse Studierendenschaft wollen, muss die Studienzeit flexibler werden und wir brauchen mehr Teilzeitstudiengänge.
Ich hoffe auf eine BAföG-Reform mit einer Anpassung an die Studienbedingungen des 21. Jahrhunderts. Das BAföG ist eine große Errungenschaft, aber mit seinen 50 Jahren nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen realistische Kostenschätzungen, weniger Bürokratie und mehr Flexibilität. Elternunabhängiges BAföG halte ich zwar für eine gute Idee; ich befürchte nur, dass der BAföG-Satz dann sinkt und finanzschwache Studierende unter die Räder geraten. Mir wäre es lieber, wenn das BAföG nicht zurückgezahlt werden müsste. Dann würde die Angst vor Verschuldung wegfallen, die viele abschreckt. Aktuell ist das BAföG leider so unattraktiv, dass viele lieber jobben gehen.
Über welche weiteren Finanzierungsquellen informieren Sie Studierende?
Wir machen viel Werbung für Stipendien. Diese sind häufig wenig bekannt, allerdings bekommen auch nur ein bis zwei Prozent der Studierenden ein Stipendium. Und dann gibt es natürlich noch Kredite und UGVs. Diese sind insbesondere wichtig für alle, die keinen BAföG-Anspruch haben. Daher finde ich auch das neue Lebenshaltungskosten-Angebot der CHANCEN eG gut: Denn es unterstützt insbesondere diejenigen, die sonst keine Chancen haben. Den UGV muss man zwar zurückzahlen, aber man hat keine festen Schulden, das ist ein großer Vorteil.
Studierende und Studieninteressierte aus nichtakademischen Familien sind herzlich eingeladen, die kostenlosen Workshop- und Beratungsangebote von ArbeiterKind.de zu besuchen. Weitere Infos finden Sie unter www.ArbeiterKind.de